Ab und zu spielt der Zufall so, als wäre alles wohlbedacht und absichtsvoll genau so geplant gewesen. Das war diesmal gewiss nicht der Fall, aber umso reizvoller ist die Gegenüberstellung der Novemberkantate («Nimm von uns, Herr, du treuer Gott» BWV 101) mit jener vom kommenden 16. Dezember 2022. Die Kantate «Gottlob! Nun geht das Jahr zu Ende» BWV 28 kann man nämlich mit Fug und Recht als ziemlich perfekte Antagonistin zu BWV 101 bezeichnen. Wer die Schwere, ja Hilflosigkeit der unter allen möglichen Schicksalsschlägen seufzenden und schreienden menschlichen Kreatur noch in den Ohren hat, darf im Dezember deutlich aufatmen. Der Titel der Kantate könnte zwar auch anders aufgefasst werden, nämlich im Sinne der Erleichterung darüber, dass nun dies oder das vorbei, abgeschlossen sei. Aber nein, in BWV 28 wird gedankt für die widerfahrene Güte im ablaufenden und um Gnade gebeten im kommenden Jahr – wer würde da nicht einstimmen wollen?

Die Gegensätzlichkeit der zwei Werke geht aber noch weiter. So selbstverständlich im musikalischen Duktus, der bei BWV 28 licht, locker und eingängig ist. Darüber hinaus scheint uns aber auch die zugrunde liegende Theologie ziemlich unterschiedlich: Während «Nimm von uns, Herr…» klar und deutlich auf Christus als Erlöser von Sünd’ und allem damit verbundenen Übel abzielt, kommt der Name Christus in der «Gottlob!»-Kantate nur gerade einmal und fast ein wenig beiläufig, nämlich im Schlusschoral, vor. Die Dezemberkantate kann man deshalb in die Reihe jener Werke Bachs einordnen, die vom Inhalt her selbst für Angehörige der zwei anderen abrahamitischen Religionen erträglich wären. Reichen Spuren des Deismus, wie er gut 50 Jahre später mit Lessings «Nathan dem Weisen» die Aufklärung zu einem ihrer Höhepunkte führte, in die Zeit Bachs und in die weltoffene Stadt Leipzig zurück?

Vielleicht tun wir dem frohgemuten Kantatentext zu viel theologische oder philosophische Ehre an. Das oder auch anderes wird unser Reflexionsreferent, der Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel, klären können. Und vielleicht gelingt dem eloquenten, auf Verständlichkeit bedachten Redner auch der Brückenschlag vom Kantatentext zu heutigen Sichtweisen und Befindlichkeiten. Angeblich feststellbare Kausalitäten und darauf basierende Schuldzuweisungen prägen bekanntlich unser Geschichtsbild. Gott und/oder der Zufall («Act of God») haben keinen Platz mehr, Dankbarkeit für Gehabtes schon gar nicht. War oder ist das ein Fortschritt?

Am Lendemain nach dem Kantatenkonzert, d.h. am Samstag, 17. Dezember 2022, findet unser Weihnachtssingen mit dem Vokalquartett der J. S. Bach-Stiftung unter der Leitung von Philippe Rayot und mit Rudolf Lutz an der Orgel statt. Die Veranstaltung beginnt mit Kaffee und Gipfeli um 9.30 Uhr im Kirchgemeindehaus St. Mangen in St. Gallen, Konzert um 10.30 Uhr in der Kirche. Die Gönnerinnen und Gönner der J. S. Bach-Stiftung können ihre Gutscheine einlösen. Karten im freien Verkauf können im Übrigen online auf bachstiftung.ch oder über unser Sekretariat gebucht werden.