Barbara Bleisch übernimmt die Intendanz für die Reflexionen mit der Konzertsaison 2024. Bekannt als Moderatorin der «Sternstunde Philosophie» beim SRF ist sie darüber hinaus regelmässig in #giigets auf SRF 3 zu hören, schreibt Bücher und doziert an den Universitäten Zürich sowie Luzern. Für ihre Arbeit wurde sie als Journalistin des Jahres 2020 vom Branchenmagazin «Schweizer Journalist:in» ausgezeichnet.

Konrad Hummler: Frau Bleisch, was bedeutet für Sie Johann Sebastian Bach?
Barbara Bleisch: Johann Sebastian Bachs Musik ist mir oft fast zu gross für Worte. Ich kann mich deshalb nur herantasten. Vielleicht weil ich bei keinem anderen Komponisten so sehr das Gefühl habe, dass er einen Bogen zum Unverfügbaren zu schlagen vermag. Irgendetwas spricht in dieser Musik zu mir, das mich zutiefst anrührt.

Gibt es eine spezifische Erfahrung in Ihrem Leben, die Sie zu Bach geführt hat?
Ich erinnere mich gut an die festliche Stimmung im Advent, wenn meine Eltern die Schallplatten mit den Brandenburgischen Konzerten auflegten, Kerzen anzündeten und es Lebkuchen und Tee gab. Etwas später habe ich auf der Geige Bach gespielt, oft in bearbeiteten Arrangements, sodass mein Vater mich auf dem Klavier begleiten konnte. Als Jugendliche verfiel ich dann Bach eine Weile gänzlich – hörte wieder und wieder die h-Moll- Messe, aber auch das Musikalische Opfer oder die Kunst der Fuge. Der Leiter des Orchesters, in dem ich spielte, liess uns ganze Wochen lang die Krebsfiguren des Musikalischen Opfers nachspielen und erzählte von mathematischen Botschaften in seinem Werk. Vieles stimmte wohl nicht, aber es machte Bach für mich noch geheimnisvoller.

Die Kantatentexte gelten gemeinhin als schwierig, weil der moderne Mensch die tiefe Religiosität nicht mehr richtig nachvollziehen kann. Die literarische Qualität ist auch nicht unangefochten. Lohnt sich die Auseinandersetzung mit diesem historischen Konvolut wirklich?
Natürlich! Wenn wir alle Texte, die sperrig und unzeitgemäss sind, ad acta legen würden, wären unsere Bibliotheken halb leer. Texte sind Einladungen zu Zeitreisen, sie machen uns vertraut mit Weltanschauungen, Menschenbildern, Moralvorstellungen aus anderen Epochen und Kulturen. Natürlich gilt es heute, Texte historisch-kritisch zu lesen, und das geschieht ja auch im Rahmen der einmaligen Aufführungspraxis, die die Bach-Stiftung pflegt. Lektürewiderstände sind aber oftmals die besten Voraussetzungen, um das eigene Denken voranzubringen.

Sie werden künftig Reflexionistinnen und Reflexionisten überzeugen müssen, die Mühe für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Vokalwerken Bachs auf sich zu nehmen. Wie werden Sie Zögernden oder Mutlosen begegnen?
Ich weiss nicht einmal, wie vielen ich davon begegnen werde! Sich von Klängen und Texten verführen zu lassen, eigene Gedanken zu formulieren und sie dann in einem so schönen Rahmen präsentieren zu dürfen, scheint mir doch eher ein Privileg denn eine Bürde zu sein.

Vor etlichen Jahren hielten Sie selber eine Reflexion bei der J. S. Bach-Stiftung, nämlich im Jahr 2009 zur Kantate BWV 42 «Am Abend desselbigen Sabbaths». Worin bestand dabei die grösste Herausforderung?
Diese Kantate liebe ich bis heute sehr, ich habe sie im Nachgang unzählige Male gehört! Natürlich war ich aufgeregt, ich hatte noch kaum Bühnenerfahrung, war noch Promotionsstudentin und hatte vor Bachs Werk einen ungeheuren Respekt. Es galt also, Worte zu finden, die nicht in Kitsch oder Huldigung abglitten, sondern Distanz wahrten. Was genau ich damals erzählt habe, weiss ich aber nicht mehr.

Haben Sie eine Vorliebe für eine bestimmte Bachkantate? Wenn ja, um welche handelt es sich und weshalb?
Es wäre übertrieben, so etwas zu behaupten, dazu kenne ich sein Kantatenwerk viel zu wenig. Insofern freue ich mich sehr, nun viele Kantaten neu entdecken zu dürfen. Unter jenen, die ich kenne, ist mir «Bleib bei uns, denn es will Abend werden» sehr lieb, grad auch der schlichte 6. Satz. «Schwinget freudig euch empor» ist mir auch teuer – wegen des Glanzes, den die Kantate birgt. Erlauben Sie mir die Gegenfrage: Welche Kantate mögen Sie besonders gern?

Spontan kommt mir natürlich BWV 21 «Ich hatte viel Bekümmernis» in den Sinn, da ich dazu eine Reflexion vorzubereiten hatte. Die Spannweite zwischen tiefster, innerlichster Trauer und exaltierter Freude am Schluss fasziniert mich bei jedem Anhören. Ansonsten schwanke ich zwischen vielen möglichen Lieblingsstücken hin und her. Es ist fast wie bei guten Weinen – mal passt der eine besser, mal der andere. An Bach kann’s nicht liegen, sondern an meiner eigenen Verfassung. Welche neuen Akzente möchten Sie setzen bei der Auswahl der Rednerinnen und Redner?
Arthur Godel hat ja gemeinsam mit der Stiftung eine illustre Runde an Reflexionisten und Reflexionistinnen an die Konzerte gebracht. Ich trete in grosse Fuss- stapfen und freue mich darauf. Diversität ist heute für viele ein Reizwort. Aber tatsächlich ist es mir vor dem Hintergrund der anvisierten Weitung unseres Denkens ein Anliegen, Personen ganz unterschiedlicher Alter, Hintergründe und Geschlechter zu Wort kommen zu lassen.