Von Johann Sebastian Bach gibt es verschiedene Vertonungen des Messetextes. Am bekanntesten ist selbstverständlich die Messe h-Moll, die sogenannt «katholische». Für sie hätte die lutherische Gottesdienstpraxis keine Verwendung gehabt. Anders bei den kürzeren Kyrie-Gloria-Messen, die an hohen Festtagen in Leipzig durchaus zu St. Thomas und St. Nikolai in lateinischer Sprache gesungen wurden. Denn Luther vollzog im Gegensatz zu anderen Reformatoren einen weit weniger harten Bruch zur vorreformatorischen Liturgie.
 
Wir bringen im Monat September zwei dieser Kurzmessen zur Aufführung, nämlich am Donnerstag, 15. September 2022, die Messe BWV 235 in g-Moll und am Tag darauf BWV 236 in G-Dur. In beiden Fällen wählte Bach sozusagen im Sinne von «Best of Bach» frühere Kompositionen aus, bearbeitete sie aber so, dass etwas Neues, Einheitliches entstand. Das Parodieverfahren, wie wir es auch schon aus dem Kantatenschaffen kennengelernt haben, beherrschte Bach in grossartiger Weise. Übrigens ist ja auch die Messe h-Moll weitestgehend eine Kompilation aus Versatzstücken. Aber was für eine!
 
Besonders reizvoll ist bei unseren Aufführungen im September gewiss der Konzertort: die Kathedrale St. Gallen. Bitte beachten Sie, dass die Werkeinführung zu gewohnter Zeit um 17.30 Uhr im Pfalzkeller (neben dem Regierungsgebäude im Klosterareal) und die Messenaufführungen in der Kathedrale ausnahmsweise erst um 19.30 Uhr stattfinden werden.
Wir sind der Katholischen Kirchgemeinde St. Gallen sehr dankbar, dass sie durch Zurverfügungstellung dieses wohl schönsten Barockraums weit und breit ein derartiges Zeichen gelebter Ökumene setzt. Etwas ungewohnt dürfte für unsere Konzertbesucher die Position von Chor, Solisten und Orchester sein. Aus akustischen Gründen spielen sie im Rücken des Publikums, unter der grossen Orgelempore. Für all jene, die je ein Konzert zu St. Thomas in Leipzig besuchen konnten, ist die Unsichtbarkeit der Aufführenden kein Novum, und Hand aufs Herz: Gibt es in der St. Galler Kathedrale nicht genügend anderes zu sehen?
 
Schön auch, dass mit den Reflexionisten für die beiden Messe-Abende die Ökumene zusätzlich gepflegt werden kann. Bei der ersten Aufführung am Donnerstag spricht Dompfarrer Beat Grögli zu uns, am Freitagabend Dr. theol. Frank Jehle, der langjährige reformierte Universitätsseelsorger und nicht zuletzt auch unentwegte Besucher unserer Kantatenkonzerte. Die Reflexionisten wie auch unser «Haustheologe» Dr. Niklaus Peter wissen gegenseitig um die Inhalte ihrer Beiträge; Redundanzen sind deshalb nicht zu befürchten. Im Gegenteil: Unser Publikum kann sich auf eine umfassende, alle möglichen Aspekte berücksichtigende Sicht auf das Wesen der Messe in theologischer, liturgischer und musikalischer Hinsicht gefasst machen und freuen. Die Messe ist Teil der zweitausendjährigen Kirchengeschichte und mithin wichtiger Bestandteil des abendländischen Kulturerbes.