Etwas andere Züge weisen hingegen Bachs echte Solokantaten auf, von denen sich nach gegenwärtigem Stand etwa ein Dutzend erhalten haben (BWV 51, 84 und 199 für Sopran; BWV 35, 54, 169, 170 für Alt, BWV 55 für Tenor, BWV 56, 82, 158 für Bass – einige davon mit vierstimmigem Schlusschoral; dazu kommen einige Kantaten zweifelhafter Echtheit sowie Einzelstücke und Parodien wie die Altarie BWV 200).

Für eine einzige Singstimme, Instrumentalbegleitung und Generalbass geschrieben, handelt es sich meist um sehr virtuose Werke, die dem Solisten in technischer und gestalterischer Hinsicht einiges abverlangen. Bach hat deshalb Stücke dieser Werkgruppe – namentlich die Soprankantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ BWV 51 – auch als „Cantata“ im modernen Wortsinne bezeichnet und damit von den gewöhnlichen Kirchenkantaten abgesetzt, die meist den Zusatz „Motetto“ oder „Concerto“ tragen. Es ist davon auszugehen, dass derartige Stücke nur dann entstanden, wenn Bach trotz der jahrgangsbedingten qualitativen Schwankungen seines Chores über besonders geeignete Vokalisten verfügte. Während er in Weimar auf die erwachsenen professionellen Hofsänger einschliesslich männlicher Diskantisten und Altisten rechnen konnte, kommen für Leipzig neben den jeweiligen Concertisten (besonders geschonte und honorierte Knabensänger des Chores) auch bereits an der Universität studierende ehemalige Thomaner als bezahlte Helfer (vor allem in den Stimmlagen Tenor und Bass) sowie gegebenenfalls externe Gastsolisten in Frage. Der liturgische Usus in Leipzig schloss die Mitwirkung von Frauen in der Kirchenmusik grundsätzlich aus.

Bach hat in diesen Kantaten die heikle Aufgabe des Vokalsolisten, der mit seiner Stimme und Präsenz eine ausgedehnte mehrsätzige Musik tragen musste, durch eine besonders aparte und eigenständige Begleitung (nicht selten mit solistischer Orgel oder gross besetzten Instrumentalkonzerten als einleitende Sinfonia) zugleich erleichtert wie erschwert. Die zum 6. Sonntag nach Trinitatis (28. Juli) 1726 entstandene Alt-Solokantate „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ BWV 170 ist dafür ein gutes Beispiel. Kann sich der Solist im Eingangssatz vom pastoralen Klang der Streicher und der Oboe d’ amore umhüllt fühlen, muss er sich in der zentralen Arie „Wie jammern mich doch die verkehrten Herzen“ in einem regelrecht widerborstigen Klangfeld bewähren. An die Stelle eines ausgearbeiteten Basso Continuo tritt eine hoch liegende Unisono-Stimme sämtlicher Streicher, die nur wenige Stütztöne liefert. Eigentlicher Solist der Arie ist jedoch die Orgel, die auf zwei Manualen ein vertracktes und von „falschen“ Intervallen nur so strotzendes Linienspiel entfaltet. Was kompositorisch als klingendes Abbild der Gottferne und Verirrung in Sünde überzeugt, führt den Gesangssolisten durch die instrumental geprägte Stimmführung auf ein schwieriges und ungewohntes Terrain. Der zugleich tänzerische wie entschlossene Schlusssatz („Mir ekelt mehr zu leben“) kommt demgegenüber als schwungvoller Ausklang daher – ein Beispiel leidenschaftlicher Weltabwendung und Todessehnsucht, wie es nicht nur für die lutherische Theologie des Barock, sondern auch für Bachs Solokantaten typisch ist (siehe auch die Schlusssätze der Solokantaten BWV 82, 35 und 54). Dass der Thomaskantor auf eine kunstvolle Ausführung der Rezitative nach Massgabe der barocken Darbietungspraxis zählte, wird beim Blick auf die beiden Kantatenrezitative mit ihren heiklen Sprüngen und gespannten Linien unmittelbar deutlich.

Anselm Hartinger (2013)

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